Episode 3: Die sächsische Schweiz

Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich habe eine ziemlich lange Liste von Orten, Gegenden, Städten, Ländern und Regionen, die ich gerne bereisen möchte. Vor etwa drei Jahren habe ich angefangen, jedes Jahr mindestens eines meiner Traum-Ziele zu bereisen, denn viel zu schnell kommt man in einen Alltagstrott, der einen festhält und es ist schwierig, dort wieder auszubrechen. Und wie, wenn nicht durch das Reisen, sollte man Länder, Menschen und Kulturen kennenlernen? Bevor ich eine solche Reise antrete bin ich immer aufgeregt: werden sich meine Vorstellungen erfüllen? Wie werden sich meine Eindrücke auf mich und meine Zeit nach der Reise auswirken? Und welchen Vorurteilen werde ich begegnen, sowohl in mir als auch mir gegenüber? Diesmal ging es in den Osten. Zunächst in die sächsische Schweiz und danach weiter nach Polen. Wir haben das wunderbare mit dem noch wunderbareren verbunden und neue Fotos für unsere DreadFactory-Webseite geschossen und sind dabei noch gewandert. Wem wir dabei begegnet sind, warum Vorurteile umso härter sind, wenn sie sich bestätigen und warum mehr Dreadheads in den Osten müssen, liest du hier.

Dreads in den Bergen

Wie sage ich das jetzt, ohne mit der Tür in das Haus zu fallen? Bei der Europawahl ist ziemlich klar geworden, wie die politische Landschaft in Deutschland aussieht: je östlicher man reist, umso brauner* wird es (*Anmerkung der Redaktion: nur weil man etwas blau anmalt, wird es nicht weniger braun). Trotzdem wollte ich nicht mit einer fertigen Meinung in die sächsische Schweiz reisen, sondern mich überraschen lassen. Mich darauf einlassen, was mir begegnen würde. Das ist für mich der Unterschied zwischen „reisen“ und „Urlaub machen“: beim Reisen bist du offen für das, was kommen mag, du möchtest gern erleben und mit allen Sinnen wahrnehmen, was ist. Beim Urlaub machen fährst du irgendwohin und machst genau… nichts. Einfach Urlaub. Du musst nichts, außer dich entspannen. Vielleicht in ein Resort oder ein Hotel, das ein kleiner Mikro-Kosmos ist – und deswegen aber ziemlich abgeschnitten von der wirklichen Welt umher.

Jedenfalls sollte meine erste Reise nach Schöna, ein winziges Dorf bei Pirna an der Grenze zu Tschechien frei von Vorurteilen meinerseits sein. Denn besonders die Landschaft reizte mich ungemein. Die Berge. Die Felsformationen der sächsischen Schweiz. Und ohne jetzt zu sehr in einen Reise-Blog abzudriften: die Landschaft ist der Wahnsinn. Etwas weniger bergig, als ich es dachte, aber wunderschön und mit seinen Felsen einzigartig. Die Elbe sieht besonders märchenhaft aus, wenn man von oben den Sonnenuntergang in ihr betrachtet. Das frühsommerliche Grün der Bäume, das rosa-rot, das sich in den weißen Wolken bricht und die Schwalben, die durch die Schluchten stürzen, um im nächsten Moment wieder aufzusteigen ist schon sehr idyllisch. Fast kitschig.

Aber eben nur fast kitschig. Es ist ein wunderbares Fleckchen Erde, das so zauberhaft friedlich und gleichzeitig brachial wirkt, dass auch ich hin- und hergerissen war zwischen Stauen und Ehrfurcht, tagträumen und lieber einen Schritt weg vom Geländer machen – ich hab nämlich ziemliche Höhenangst.

Wie gespalten ist das Land?

Aber nicht nur dieser Zwiespalt beschäftigte mich die Tage. Sondern auch das Bewundern der Natur und gleichzeitig die Unfreundlichkeit und offensichtliche politische Orientierung der AnwohnerInnen. Es ist mir schon lange nicht mehr passiert, dass ich sehr offensichtlich in einem Biergarten entweder gar nicht beachtet oder extrem unfreundlich bedient wurde, dass ich ganz offen angestarrt werde und zwar nicht mit dieser Offenheit, die beispielsweise BerlinerInnen in ihrem Gesicht haben, sondern mit einer gewissen Feindseligkeit. Wenn sich Köpfe zu einem umdrehen, spürt man diesen ganz feinen Unterschied zwischen Interesse, Neugier oder aber Ablehnung. Locs und ein alternatives Aussehen sind hier etwas fremdes, etwas, was das Bild stört. Wohingegen große und kleine patriotische Akte in Form von Flaggen und Schriftzügen für das eigene Land oder gegen andere Nationalitäten offenbar gern gesehen und als schmuckhaft angesehen werden. Wenn man auf einem Auto einen Aufkleber in altdeutscher Schrift „Klagt nicht, kämpft“ sieht, wird einem einfach anders. Der Spruch hat seinen Ursprung im 2. Weltkrieg und wurde vor allem von den Fallschirmjägern verwendet. Heute findet er sich auf Schlüsselanhängern oder eben Aufklebern wieder. Da kommt mir das erste mal ein bisschen Kotze hoch. Im Ernst? Sympathisieren mit auch nur irgendwas aus dem 2. Weltkrieg ist für mich an Geschmacklosigkeit kaum zu übertreffen. Und auch nicht an Ignoranz. Als damals die Debatte eröffnet wurde, ob während der Fußball-WM die kleinen Patrioten bedient wurden, wedelte man noch mit der Hand, frei nach de Motto „Nein, nein, die hängen ihre Deutschlandflagge raus, weil sie Fußball-Fans sind.“ Und jetzt hängt der „Merchandise noch immer an Autos, in Autos und um Autos herum. Hier wird man wohl noch sagen dürfen und man wird doch wohl noch patriotisch sein dürfen. Hier, wo es eigentlich nicht anders besiedelt ist als im Wendland und dennoch politisch kaum unterschiedlicher sein könnte. Wo man aus so viel landschaftlicher Schönheit, Platz und Potenzial so viel tolles entstehen lassen könnte und doch so verbohrt ist in seiner Ablehnung allem fremden gegenüber.

Das ist natürlich nur der Eindruck von wenigen Tagen, aber bestätigte leider ein Bild, das man nach der Europawahl vom Osten Deutschlands bekommen hatte.

Besonders bitter wurde dieser Eindruck, als wir weiterfuhren nach Polen. Um genau zu sein: nach Auschwitz.

Ohne Worte

Ich dachte wirklich, ich wäre gut informiert. Dass ich vorbereitet sei auf das, was ich in den Lagern von Auschwitz sehen würde. Wie oft hatten wir in der Schule das Thema „3. Reich“, bis die ersten angefangen haben zu nölen „Och nee, schon wieder…“ oder auf eine andere Art ihrer Langeweile über das Thema Ausdruck verliehen haben. Nach der Schulzeit las ich Artikel, schaute Dokumentation und hörte vor allem meinen Großeltern zu, wenn sie von der Zeit im nationalsozialistischen Deutschland erzählten. Und eine Frage schwirrte mir immer im Kopf herum: Wie konnte das passieren?

Ich kannte die Bilder von Auschwitz. Aber wenn man dann in dem ersten Hof von dem Stammlager steht, das Tor sieht mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ und zynischer Weise die Sonne strahlt, wird einem anders. Mir zumindest. Sechs Stunden dauerte die Guided Tour, die wir gebucht hatten und ich empfand es als unaussprechlichen Segen, das Gelände wieder verlassen zu dürfen – im Gegensatz zu unzähligen Menschen, die dort ermordet worden waren. Das Wort „Mord“ hört man viel zu selten, wenn es um die Verbrechen geht, die unter dem NS-Regime begangen worden sind. Stattdessen verwenden wir „Vernichtung“ oder „Vergasung“ als Synonym, und so pervers diese Worte sind, schaffen sie doch eine Distanz. So wie das Wort „Flüchtlinge“ eine Distanz schafft und Menschen, die geflüchtet sind, ein wenig von dem abspricht, was wir so hoch halten: Menschenwürde und -Rechte.

Während wir uns die Baracken ansehen, die Berge von aufgetürmten Brillen, Koffern, Prothesen, Kinderkleidung, Haaren, schieben sich mit uns hunderte andere Menschen durch das erste Lager, wo Menschen, die anders waren, gequält, entmenschlicht und ermordet wurden. „Anders“ als Deutsche. Christliche, heterosexuelle, körperlich und geistig gesunde Menschen. Wobei besonders die geistige Gesundheit derer, die hier Täter waren, anzuzweifeln ist.

Das zweite Lager raubte mir und uns dann endgültig den Atem. Eine so große Anlage, die dazu gemacht worden war, Menschen systematisch zu halten und sterben zu lassen. Rund 40 km2 umfasste das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Alle Fotos, die ich gemacht habe (und es waren nur wenige), verfälschen den Blick für das, was dort wirklich geschah. Denn die Gegend hier wirkt ebenfalls idyllisch. Die Umgebung blüht in der Sonne und wenn man durch den Stacheldrahtzaun, der damals mehrere Hundert Volt Strom leitete, blickt man auf üppige Bäume und Sträucher.

Während wir die Schienen entlang gehen, vorbei an unzähligen Baracken und Umrissen von ehemaligen Latrinen und weiteren Baracken, frage ich mich erneut: wie konnte das passieren? Wie können Menschen andere Menschen derart quälen. Wie kann es sein, dass Ethik und Moral oder auch bloß Mitgefühl und Verstand gänzlich versagen?

Sind wir Menschen wirklich so einfach gestrickt, dass die Angst vor dem anderen und davor, dass uns etwas weggenommen wird, uns dazu befähigt, mehrere Millionen Menschen zu ermorden? Mehrere tausend Menschen ertrinken zu lassen? Dass wir uns distanzieren können von einstig wunderschönen und jetzt zerbombten Städten? Können wir uns derart von Verbrechen, wie sie in Auschwitz geschehen sind, distanzieren, dass wir auf unserem Auto „Klagt nicht, kämpft“ kleben haben?

Reist mehr in den Osten

Entgegen allem, was man nun denken könnte: reist mehr in den Osten. Man könnte jetzt sagen „Keinen Fuß setze ich in solch eine Gegend!“, aber zum einen sind nicht alle so. Ich kenne viele in Leipzig, Dresden, Chemnitz, die immer wieder auf die Straße gehen und für die Demokratie demonstrieren und im Alltag ihre Stimme erheben, wenn jemand jammert „Man wird ja wohl noch sagen dürfen…“. Lasst diese Menschen nicht allein und vor allem: tragt dazu bei, dass sich Sehgewohnheiten ändern. Sehgewohnheiten bedingen zum großen Teil das, was wir als „fremd“ einstufen, als „anders“. Seien es Dreadlocks, zwei Frauen, die sich auf der Straße küssen oder einfach Menschen, die sich trauen, sie selbst zu sein.

Keine Locs für Nazis!

Sorry, not sorry: bei uns gibt es keine Dreadlocks für Nazis! Schreib uns nicht an, bewirb dich nicht bei uns (tatsächlich schon vorgekommen... tzzzz) und like auch keine Fotos auf unseren Social Media Kanälen, wenn du rechts bist und anti-semitische, rassistische, homo-/transphobe und/oder sexistische Ansichten vertrittst. Unsere Locstories kannst du bitte weiterhin lesen, weil kostenlose Bildung und so.

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