Immer wieder erreichen mich Fragen, wie unsere bisherigen Erfahrungen mit Dreadlocks im Beruf sind. Dadurch, dass Dreadlocks immer weiter in die Mitte der Gesellschaft rücken und nicht mehr nur eine Randerscheinung sind, trauen sich immer mehr Menschen, auch in ihrem konventionellen Beruf das Thema Dreadlocks anzuschneiden. Dabei bleibt immer die Frage, besonders wenn man mit anderen Menschen arbeitet, ob Dreadlocks im Beruf eher abschrecken oder eine Brücke bauen.

Heute möchte ich euch Milena (Name von der Redaktion geändert) vorstellen. Sie arbeitet als Palliativ-Krankenschwester und begleitet Menschen auf ihrem ganz besonderen Weg.

Dreadlocks auf der Palliativ-Station

Als ich 2013 das erste mal auf einer Palliativ-Station war, war diese Welt noch völlig neu für mich. Aber die Krebserkrankung meiner Mutter hatte mich damals vor ganz neue Herausforderungen gestellt. Unter anderem die Pflege eines Menschen, der keine Heilung mehr erhoffen kann. Auf einer Palliativ-Station oder von dem palliativen Pflegedienst werden Menschen betreut, die aufgrund von ihren lebensverkürzenden Krankheiten an Schmerzen oder anderen Symptomen leiden und nicht mehr in ein Krankenhaus gebracht werden möchten. Menschen wie Milena sind dann für die Erkrankten da, sei es, um sie medizinisch zu versorgen oder auch, um ihnen die Ängste zu nehmen und Ansprechpartner zu sein.

„Wir sind 24 Stunden bereit. Zwar nicht immer mit Blaulicht, aber wenn wir gebraucht werden, fahren wir natürlich zu den Menschen!“

erklärt mir Milena, als ich sie bat, mir ein wenig von ihrem Alltag in einem Palliativ-Team zu erzählen.

Der erste Kontakt

Ich weiß noch, wie ich damals das Team kennengelernt habe, das meine Mutter betreute. Es ist ein sonderbares Gefühl, jemanden so nah in die Familie zu lassen und gleichzeitig gibt es einem in einer so angsteinflößenden und aufwühlenden Zeit ein klein wenig Sicherheit. Die Sicherheit, nicht allein zu sein und aufgefangen zu werden, wenn man als Angehörige keine Kraft mehr hat. Die Sicherheit, dass jemand vor Ort ist und alles tut, um das Leiden, sei es körperlich oder seelisch, des Menschen zu lindern.

Der Erstkontakt ist auch für Milena immer eine Besonderheit.

„Wir pflegen die Menschen daheim. Und dann stehe ich mit der Ärztin in der Tür und die Leute gucken dann natürlich erstmal. Auch auf meine Tattoos. Aber meistens stimmt die Basis einfach und die Menschen nehmen meine Einladung an, dass ich sie auf diesem Weg begleiten möchte und lassen sich fallen. Manche haben dann am Ende des Tages, wenn ich gehe, den Mut mir zu sagen, dass sie meine Haare mögen.“

Dadurch, dass man mit dem Pflegeteam einen sehr engen Kontakt hat, lernt man sich auch sehr schnell kennen. Man sieht sich beinahe täglich, unterhält sich, tauscht sich aus und besonders die Erkrankten öffnen sich irgendwann.

„Viele alte Frauen erzählen mir, wenn sie meinen „bemalten“ Arm streicheln und meine Haare anschauen, dass sie das auch gern gemacht hätten, früher, wenn sie gekonnt hätten. Sie freuen sich mit mir und strahlen. Dieses Strahlen ist echt der Hammer.“

Und man merkt Milena an, dass diese Tätigkeit mehr ist als einfach nur ein Job. Es ist eine Berufung.

Die Freiheit, man selbst zu sein

Mit Dreadlocks und Tattoos lebt man eine ganz besondere Freiheit. Die Freiheit, man selbst zu sein. Diese Freiheit ist so kostbar und wird doch so oft als selbstverständlich gesehen, dass es manchmal die Worte einer/s Sterbenden braucht, um zu begreifen, wie wertvoll es ist, seine Träume und die eigene Individualität zu leben.

„Andere können sich nicht mehr freuen. Sie gehen in Rente, hören auf zu arbeiten, fallen in ein Loch und sterben. Es ist so schade, wenn Menschen nie gelebt haben. Diese Leere in den Augen, die Ehefrauen, die in der heutigen Zeit den Tyrannen viel früher verlassen hätten. Du siehst die Sehnsucht nach Freiheit in ihren Augen, die Trauer darüber, dass nun auch die zweite Hälfte ihres Lebens um ist und sie alles verpasst haben. Die Träume sind zerplatzt. Die nackte Wahrheit steht vor ihnen: ein ungelebtes Leben, immer mit den Worten „dann“, „später“, „bald“ vor sich hin geschoben.“

Und auch in solchen Momenten sind Palliativ-Krankenschwestern da und tupfen die Tränen trocken, halten die Hand und schenken den Menschen einen ganz besonderen Moment: die Möglichkeit, sie selbst zu sein. Da gibt es nichts, was aufrechterhalten werden müsste, keine Fassade oder Maske, kein „people pleasing“ oder Verlustängste. In den Armen von Milena dürfen sie so sein, wie sie immer wollten und mit ihr einen Hauch von der Freiheit kosten.

Dreadlocks berühren Menschen an ganz besonderen Punkten und wecken in ihnen die/den Rebellin. Das sind die Momente im Leben, an denen ich persönlich innehalte und kurz drüber nachdenke: wenn ich nun der nackten Wahrheit in die Augen sehen müsste: habe ich bisher mein Leben gelebt? Und kreiere ich mit dem, was ich momentan tue, eine Zukunft, in der ich gerne leben möchte?

Dreadlocks verbinden

Zuerst wollte ich schreiben „Besonders schlimm ist es für Kinder, wenn die Oma oder der Opa auf der Palliativ liegen….“. Dabei kann ich gar nicht sagen, ob es besonders „schlimm“ ist. Kinder haben noch die wunderbare Eigenschaft, zu hoffen und zu vertrauen. Sie können ihre Emotionen frei ausleben und ausdrücken.

„Sie sind offen, zeigen uns, wie man Trauer lebt, lachen am Bett und im nächsten Moment weinen sie drauf los. Sie haben so viel Liebe in sich.“,

erzählt mir Milena, die selbst Mutter von vier Kindern ist.

„Ich flechte den Kids immer mal wieder einen Filzdread ein oder ich bekomme selbst unzählige Zöpfe geflochten. Wenn Kinder da sind, die sehr aufgeregt sind, lasse ich sie meinen Filz-Fliegenpilz im Haar suchen. Dadurch bauen wir Kontakt auf und sie überwinden die Distanz. Sie können uns so viel beibringen. In der einen Minute weinen sie und sind am Boden zerstört, in der nächsten fragen sie, ob wir ein Eis essen gehen können oder schaukeln. Ja, wir trauern, aber ja, wir dürfen trotzdem lachen und singen und tanzen. Ich lache so viel mit den Angehörigen.“

Milenas Aussehen mag also vielleicht im ersten Moment die Erkrankten und Angehörigen stutzig machen, doch ist es genau das, was sie auch verbindet. Und natürlich Milenas Wesen, das so viel Verständnis und Fürsorge ausstrahlt, dass man sich bei ihr einfach wohlfühlen muss. Wenn sie sich beispielsweise auf den Boden setzt und einfach Ruhe ausstrahlt. So dass auch die Menschen um sie herum zur Ruhe kommen. Und dann auch endlich loslassen können. In Momenten, in denen der Tod näher ist als das Leben, oder einfach in Situationen, die uns überfordern, neigen wir Menschen dazu, dicht zu machen, um nicht zu fühlen. Dabei ist es eben das, die Fähigkeit zu fühlen, die uns menschlich macht.

Ich ziehe meinen Hut vor Menschen wie Milena. Nicht nur, dass sie Menschen auf diesem besonderen Weg begleitet. Sie bringt auch etwas in die Welt, das für uns alle, gesund oder krank, unbegreiflich wichtig ist: Hoffnung. Und diesen Hunger nach Leben.

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